Dienstag, 18. Dezember 2012

Fast wie bei Dickens

Da steht sie nun, und mir bleibt die Spucke weg.

Ende November ging sie ins Krankenhaus und ich habe seitdem nichts von ihr gehört, jetzt hat sie sich für heute angemeldet, aber auf das war ich nicht vorbereitet.

Keines der drei Paar Augen hat beim Bewerbungsgespräch gesehen, daß sie schwanger, ja sehr schwanger ist, sie hatte ein kleines Hängerchen an, erst als sie zur ersten Schulung kam, sah man den großen kugelrunden Bauch mehr als deutlich an der sonst sehr schlanken, fast abgemagerten Figur.
Die beiden anderen wollten sie eigentlich nicht einstellen, zu Aso irgendwie, beschädigt, aber ich sah in dem großen Pack Unsicherheit vor allem ein paar schlecht durchlebte Jahre, und für mich blitzte so eine Art zähe, intelligente Frechheit auf, so daß ich dachte, das kann sie schaffen.
Natürlich hätte ich keine Schwangere eingestellt, für die Zeit der Hauptsaison an der Außenstelle, die Belastung dort ist unglaublich groß von Oktober bis Januar, und da kann man den anderen Kollegen rein gar nichts zumuten, alles ist auf Kante genäht. Aber nun konnte ich es, schon rein rechtlich, nicht mehr rückgängig machen, und es war sowieso eine befristete Aushilfsstelle.
Wie es sich rausstellte, war auch nicht so klar, ob sie sich ihrer Schwangerschaft überhaupt bewußt war - sie rauchte wie ein Schlot und jeden Feierabendsekt, oder Frustsekt, den es an der Außenstelle gibt, trank sie eifrig mit. Alle Fragen der Kollegen nach ihrem Bauch blockte sie sofort und unmißverständlich ab. In mir setzt sich die Ahnung fest, daß so also diese unvorstellbaren Schwangerschaften verlaufen, wo man das Baby dann im Hinterhof hinter den Altpapiertonnen findet, und die Mütter dann sagen, sie hätten das alles verdrängt.

Und jetzt steht sie da an der Tür und hat ein Frühgeborenes auf den Bauch geschnallt - die kleine Julie ist über zwei Monate zu früh geboren, noch ganz klein und rot, gerade erst 12 Tage alt, aber gesund. Die Mama dagegen ist noch sehr geschwächt, 26 Jahre alt ist sie, aber doch erst eher 17. Beim Auspacken des Babies aus Bauchgurt und diversen Lagen Jacken muß ich ihr helfen, sie ist noch sehr unsicher mit ihrem Baby.
Die Hauptsache aber, und das merke ich sofort und überdeutlich, sie liebt ihre kleine Tochter über alles, das Rauchen hat sie sofort nach der Geburt aufgegeben, und sie stillt. Es steckt eine gewaltige Macht in weiblichen Hormonen und einer Geburt, offensichtlich.
Sie hat sich bei 5 Grad minus und Schnee und Eis mit den kleinen zarten Wesen quer durch Berlin geschleppt und sitzt nun da, wie ein Hund. Sie sagt nicht viel, und ich bin bald am Ende mit improvisieren.
Und sie bleibt doch sitzen.
Irgendwann nehme ich das winzige Bündel auf den Arm, erstaunlich schwer ist die kleine Julie, ziemlich rot und sehr warm, sehr wohlriechend nach Baby, und alles dran, offensichtlich.
So ein Baby ist ja schon ein wenig gruselig, ein Organismus, der einzig auf Überleben eingestellt ist, bei aller Schutz- und Wehrlosigkeit. Die kleine Julie wird sich sicher etwas dabei gedacht haben, als sie entschlossen hat, den für sie wahrscheinlich unwirtlichen Mutterleib zwei Monate früher zu verlassen. Und Babies haben ja auch unglaubliche Ressourcen, wie oft findet man bei Erdbeben noch nach langer Zeit, wenn alle Hoffnung schon längst vergangen ist, noch lebende Säuglinge unter den Trümmern.
Langsam, tastend und unsicher fängt A. dann an zu erzählen, sie habe ein schreckliches Jahr gehabt (es waren wohl ein paar schreckliche Jahre mehr, denke ich), vom Vater habe sie sich getrennt, ein Drogenabhängiger (alles außer Heroin, sagt sie), der mit 14 von zuhause abgehauen ist, und ihr gegenüber auch schon gewalttätig wurde. Sie selbst ist mit 16 zuhause weg, sie kommt mit dem Vater nicht klar (die Geschichte dahinter möchte man wohl auch nicht wissen), hat zwei Ausbildungen gemacht, aber zu Mutter und Oma in der Kleinstadt an der Grenze zu Polen hat sie sehr engen Kontakt, sie kommen seit der Geburt, wann immer sie auch können. Sie möchte aus der Einraumwohnung in der Platte in eine größere ziehen, in eine schönere Gegend, für Julie.
Sie macht sich Hoffnung, daß die Begegnung mit seiner Tochter einen ähnlichen Effekt haben wird wie auf sie, und er läßt seine Drogen sein. So sanft wie möglich, aber deutlich, versuche ich ihr beizubringen, daß ein Baby sicher nicht eine jahrelange Drogensucht heilen kann. Ich rate ihr, ein Treffen noch möglichst lange hinauszuschieben, oder ganz sein zu lassen, sie habe doch nun erst einmal genug damit zu tun, für sich und ihre Tochter zu sorgen. Und wenn überhaupt, ein Treffen nur in Begleitung und nicht zuhause sondern in der Öffentlichkeit, für den Fall der Fälle. Ein Gedanke, den sie nach einer Viertelstunde langsam aufgreift und gut findet.
Währenddessen wird die kleine Julie auf meinem Arm immer heißer und schwerer. Ich versuche, A. zu stärken, zu ermutigen, herauszufinden, ob sie aufgehoben ist, ein Supportsystem hat (es gibt neben Mutter und Oma eine Freundin und eine Hebamme, die kommen), und während des ganzen Cheerleading wird mir mein Herz ganz schwer.
Ich kenne die A. ja so gut wie gar nicht. Und bin mir unsicher über meine Rolle, als Arbeitgeber habe ich natürlich Verantwortung, und als Mensch sowieso, aber doch nicht so? Ich kenne so viele Menschen, sie sich sehnlichst ein Kind wünschen, und hier sitze ich mit einem Frühgeborenen auf dem Arm und weiß nicht, ob das kleine Wurm jemals eine Chance haben wird, oder gleich in die Mühlen des Jugendamts überführt werden wird.
Klar ist, daß A. ihre Tochter unabdingbar liebt, aber was nicht klar ist, ob sie wirklich für sie und sich sorgen können wird.
Es ist sehr spät geworden, und da ich A. bei diesem Wetter nicht der S-Bahn überlassen will (und weil ich wissen will, wo sie wohnt) fahre ich sie nach Hause. Dorthin, wo die Landsberger Allee gleich hinterm Velodrom zur Trabantenstadt wird, in der Dunkelheit, Kälte und mit der dicken Schneedecke neben der sechspurigen Straße sieht es aus wie Sibirien. Und mein Herz sinkt gleich noch etwas tiefer.
Auf dem Heimweg fühle ich mich wie ein rohes Ei ohne Schale, habe Tränen in den Augen und einen Kloß im Hals. Und frage mich gleichzeitig, ob ich nicht einem gewaltigen geschmacklosen selbstausgedachten vorweihnachtlichen Sozialporno aufgesessen bin, und meine Gefühle reiner Kitsch sind.
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