"Sagense mal, trinken Sie die eigentlich immer alle selber?" fragt der solariumbenutzende, augenbrauengezupfte metrosexuelle türkische Spätiverkäufer mit seinem scheuen, süßen Lächeln, und zeigt auf die zwei Flaschen Airen, die ich grade aus seinem gutsortimentierten Kühlschrank geholt habe. (Selbstverständlich trinken oder rauchen die Brüder nicht, sie ernähren sich nur von der Sucht der anderen.)
In der Tat, das hatte ich vor, die anstrengende Höllenzeit der letzten beiden Wochen wollte ich gerne in den zwei Flaschen Weißwein ertränken, bzw. ausprobieren, wie weit ich damit komme.
"NÖ!" sage ich stattdessen, mit hoffentlich fester Stimme, "aber bei uns kommt immer ganz schön was weg..." und bin nicht nur ein wenig beschämt.
Nicht wahr, Sie haben in den letzten Monaten oft gedacht, na Mensch, beim Lucky ist ja auch gar nichts mehr los, das lohnt sich ja gar nicht mehr da vorbeizuschauen!? Recht haben Sie, los ist hier nix (und war wohl auch noch nie wirklich, aber ob es sich lohnt, hier vorbeizuschauen, werden Sie dann selber entscheiden müssen.)
Manchmal ist es ja so, man sitzt zufrieden vor sich rum an einem hundsgewöhnlichen Wochentag, in der immer noch warmen Sommerluft auf der Terrasse, der leichte Wind weht einem gelegentlich ein wohliges Geißblattdüftchen aus dem Kübel gegenüber in die Nase, denkt an nur wenig Böses und nippt am Weißweinchen, und dann spielt das böse Musikprogramm auf Shuffle ein Lied, und man schaut auf den Vollmond und ist mal wieder völlig gekegelt.
Mesdames et Messieurs, je vous presente: Dalida: Pour ne pas vivre seul / Um nicht allein zu sein
(Hören sie sich das ruhig mal richtig an, nicht so zimperlich! Klar kann man sagen, Dalida war ne melodramatische Glamourpuss und ein wenig peinlich, aber nu hörense sich das doch mal ruhig an!)
Hier der französische Text, die Version selbst ist auf Deutsch, und mal ausnahmsweise kongenial und recht unpeinlich ins Deutsche übertragen von Eckhard Hachfeld (übrigens später Volker Ludwig, Gründer des Grips-Theaters, Linje 1, vastehnse? Deutscher Text in den Kommentaren)
Dalida selbst hat sich übrigens mit 54 Jahren das Leben genommen, mit dem Hinweis, jenes sei "unerträglich geworden" (keine Angst, ich habe nicht den selben Plan)
Hier der Originaltext:
Pour ne pas vivre seul
On vit avec un chien
On vie avec des roses
ou avec une croix
Pour ne pas vivre seul
On's fait du cinéma
On aime un souvenir
une ombre, n'importe quoi
Pour ne pas vivre seul
On vit pour le printemps
et quand le printemps meurt
pour le prochain printemps
Pour ne pas vivre seule
Je t'aime et je t'attends
pour avoir l'illusion
de ne pas vivre seule
de ne pas vivre seule
Pour ne pas vivre seul
des filles aiment des filles
et l'on voit des garçons
épouser des garçons
Pour ne pas vivre seul
D'autres font des enfants
des enfants qui sont seuls
comme tous les enfants
Pour ne pas vivre seul
On fait des cathédrales
où tous ceux qui sont seuls
s'accrochent à une étoile
Pour ne pas vivre seul
Je t'aime et je t'attends
pour avoir l'illusion
de ne pas vivre seul
Pour ne pas vivre seul
On se fait des amis
et on les réunit
quand vient les soirs d'ennui
On vit pour son argent
ses rêves, ses palaces
mais on a jamais fait
un cercueil à deux places
Pour ne pas vivre seul
Moi je vis avec toi
je suis seule avec toi
tu es seul avec moi
Pour ne pas vivre seul
On vit comme ceux qui veulent
se donner l'illusion
de ne pas vivre seul
Manchmal ticken meine Instinkte ja doch richtig: ein 25-Jahre-Abitreffen war angesetzt für letztes Wochenende, und eigentlich hätte es mich ja brennend interessiert, was aus allen geworden ist.
Allen? Nee, eben nicht.
Ich bin immer super gerne zur Schule gegangen, ich hatte ja sonst zu wenig Sozialleben außer mit verschrobenen alten Frauen, wir hatten ziemlich viel Spaß (mal abgesehen von der Unwürdigkeit, die Schule an sich meistens ist) und damals dachte ich, ich müßte sterben, wenn das alles mal zu Ende ginge. War aber nicht so.
Zu gerne hätte ich die Uli (meine erste Liebe) gesehen, Günther, immer so sexy bullig und ein bißchen dumm, also genau mein Raster, auch wenn ich das damals noch nicht so genau raffte, gewußt, was aus diesen ekelhaften CDU- und SPD-Streberarschlöchern geworden ist, und wie schwul Jörg und Thilo denn nun wirklich geworden sind. Oder Guido, mit dem ich (ich!) nachmittags den Kraftraum (!) genutzt habe, und sogar gemeinsam, aber jeder für sich, die Duschen benutzt hatte.
Dann aber dachte ich, es kommen eh nur die, wo man höllisch aufpassen mußte, daß die einen in der Pause oder auf einer Party mit ihren langweilgen Zeug in einer Ecke festquatschen, so daß man den Hauptspaß verpaßt. Die anderen haben ein Leben und bleiben fern.
So scheint es denn auch gewesen zu sein, das einzige Feedback auf meine Absage bei Gabi, einer der Organisatorinnen, war, daß sie mit ihrem Freud ja auch jedes Jahr den weiten Weg nach Berlin auf sich nimmt, und sich freut, denn dann kann sie mich ja jetzt mal besuchen (N-O-T!) und von Thomas, eben jenem Früh-SPD-Aas, jetzt wohl Apotheker in einer Kleinstadt, der mich anscheinend vermißt hat und sich per Mail meldete.
Gut, daß ich nicht bei Facebook bin.
Das hätte ich mir ja denken können, daß das Karma das nicht auf sich sitzen läßt, daß ich die arme heldenhafte Belle Rosen ausgelacht habe in der Silvesternacht, obwohl sie mit ihrem Einsatz das ganze Schiff nebst Besatzung gerettet hat, und das nur, weil sie eben ein bissel dick ist, man bei ihrem Tauchgang ihre nicht eben zierlichen Schlüpper sieht und weil der Dickmadam danach die Puste ausgeht und sie stirbt.
Daß Shelley Winters das noch viel weniger auf sich sitzen läßt, geschenkt.
Und so kam es am Sonntagmorgen, nachdem man schlecht geschlafen hat, weil der wichtigste und größte Heizköper ausgefallen ist, zum höchstpersönlichen Poseidon Adventure.
Beim Versuch, den Heizkörper zu entlüften bricht das Ventil und man sieht sich einem strammen, anderthalb Meter hohen Strahl Heizungswasser ausgesetzt.
Natürlich Sonntags morgens um 10, und vor dem ersten Kaffee. Zumindest schnell noch den Fernseher weggeschoben, ansonsten steht alles auf Weltuntergang.
Was würden Sie tun an einem Sonntagmorgen? Hausmeister und -verwaltung kann man komplett vergessen, ruft man in einem solchen Fall die Feuerwehr?
Er wird es bereut haben, daß er mir seine Visitenkarte dagelassen hatte, aber immerhin ging er ans Telefon, und so kam es, daß ein tapferer, heldenhafter Heizungsmensch sich am Sonntagmorgen aus Kaulsdorf extra ins Auto warf, natürlich nicht, ohne daß ihn der gute Lucky auf herzzerreißende bejammern mußte.
Ein Hoch dem Handwerk! Wer hätte gedacht, daß es so etwas noch gibt!
Und jetzt, nachdem ich ca. 100 Liter Wasser, also 10 große Eimer, aufgewischt habe, hoffe ich auf einen trockeneren Verlauf des Restsonntags.
möchte ich hier in meinem öffentlichen Tagebuch vermerken, daß ich auch in diesem Jahr wieder in die Eifel fahre, um dort Weihnachten mit den Resten der Familie zu feiern begehen.
Nicht daß ich das Bedürfnis hätte, aber auch nicht, daß ich denselben Weihnachtshaß hätte wie früher. Es ist mir schlicht egal und nicht nur ein wenig lästig. Aber nicht lästig genug, um das Drama anzustoßen, welches es würde, wenn ich der Schwester sagen würde, ich komme dieses Jahr nicht. Dazu ist es wieder nicht wichtig genug.
Tscha, immer noch gefangen.
Immerhin, ich werde vom Neffen chauffiert, das ist doch auch was.
Ein Geschenk weniger zu besorgen, ein Haus weniger zu besuchen, dafür Blumen für ein Grab mehr zu besorgen. Auch das ist also bald überstanden, mangels Nachschub Leuten,die mir etwas bedeuten und die auch noch wegsterben könnten.
Keine Zimtwaffeln mehr dieses Jahr von Maria, und auch keine gestrickten Strümpfe mehr, ein Brauch den Maria von Godi übernommen hatte, die diesen Brauch von Mom übernommen hatte, nach deren Tod, und extra dafür in den letzten Jahren noch Stricken gelernt hatte.
Oder sollte das Strümpfe stricken so eine Art Staffellauf des Todes gewesen sein, der nun vielleicht andlich unterbrochen ist? Ich werde vorsichtshalber alle strickenden Menschen vor Ort warnen.
Abgesehen von einem letzten würdigen Sonntag mit halbleckem Schlauchboot habe ich den Abschied vom Sommer schon am Samstag abend zelebriert, im warmen Dunkel auf der Terrasse, nur mit Wein (für mich) und Water (for Elephants) als Gesellschaft, und einer einzigen Gardenienblüte, die mich mit ihrem Duft umfing.
Wenn man einen Grauganszug am Himmel sieht und ihre Rufe hört, das ist der Punkt, wo der Sommer endgültig vorbei ist. Am Samstag habe habe ich sie zwar nicht mehr sehen können, aber hören. Alle drei Minuten ein neuer Zug, mit hundertfachem Stimmengewirr. Idiotisch, ich habe immer bei einem einzigen Zug gedacht, das wärs jetzt, dabei müssen Millionen Gänse nach Süden, vielleicht sogar Milliarden, und der überaus belebte dunkle Himmel über mir war schon irre beeindruckend.
Wenn tausende Organismen so unbeirrt wissen, wann und wohin sie navigieren müssen - warum kann man das nicht auch? The Summer has ended and we are not yet saved. Maybe we never will be. Aber ich wiederhole mich.
Und wenn Sie dachten, daß 5 Jahre 2 Monate und 3 Wochen eine furchtbar lange Zeit sind, dann versuchen Sie es mal mit 11 Jahren, 2 Monaten und 3 Wochen.
(Ich hatte mich übrigens damals verrechnet, es waren 6 Jahre und so weiter. Aber da kommts dann auch nicht mehr drauf an.)
Ach.
(aus der bezaubernden Collage "Jetzt hat sie's" von Katharina Franck)
Nee im Ernst, ich frag mich, wo man das immer hernehmen soll, jeden Tag antreten, mild und freundlich sein, nur um dann wieder nach Hause zu fahren. Allein allein.
Und dann noch diese Arschlochnarzisse: Da kauft man so ein Töpfchen mit winzigen Trieben und Knöspchen, pflanzt es mit Liebe und Vorfreude ein, und was macht das blöde Stück: wächst und streckt sich, und steckt seine Blüten in die andere Richtung, dreht mir so den Rücken zu - was ein Arschloch!
(Edit: Oder es war doch nur das kleine Frühlingsgrippchen, das so runtergezogen hat - ich bleib heut mal mit dem Arsch zuhause, vielleicht hilft das)
Wie kann einem die Krankenkasse sowas ins Haus schicken?
Schwierigkeiten, Entscheidungen zu treffen? Ja! Schwierigkeiten mit technischen Geräten? Ja! Nicht an den laufenden Monat erinnern können? Ja! Ja! Ja! Sieben von acht - muß ich jetzt ins Heim?
Auf dem Weg zur Arbeit, an der großen Kreuzung unter der Hochbahn, war mal so ein kleines elysisches Arrangement, ein kleines Stück Romantik mit Baum, Strauch und einer Wiese voller Krokusse, Osterglocken, Schneeglöckchen und so weiter - ein kleines Pastoral unter der Gotham-Konstruktion der Stahlpfeiler der U-Bahn.
Letztes Jahr war da eine große Baustelle, und jetzt ist da nur noch ein großer Haufen Schlamm und Beton.
Jedesmal, wenn jetzt ich an der Ampel stehe, muß ich an die armen kleinen Blumenzwiebeln denken, die jetzt vielleicht zehn Meter unter der Erde sich strecken und recken, weil es an der Zeit ist, und ihre Blüten und Blätter gen Sonne schicken wollen, allein, es reicht nicht und nutzt nicht, und vielleicht wissen sie nicht mal mehr wo oben und unten ist.
Das schneidet mir tatsächlich physisch die Luft ab, sogar jetzt, wo ich es schreibe.