Und das Wort ward Gestalt
Seine kleinen dunklen Augen blitzen gehetzt im Zimmer umher. Während er spricht, bleibt sein Blick an der ein oder anderen Stelle hängen, er nickt jemandem zu oder lächelt eine kurze Begrüßung in Richtung Fenster.
Angespannt ist er, etwas überfordert, von so viel Besuch, so viele Menschen, die er lange nicht gesehen hat. Nach so vielen Jahren, die er ganz alleine zugebracht hat.
Da ist sie, die Bäuerin, an die ihn seine Mutter als 12Jährigen auf dem Nikolausmarkt als Knecht verdingt hat, für ein ganzes Jahr, gegen einige Münzen und ein Paar Schuhe für den Jungen. Die erste, bei der er nicht wie das ganze Gesinde im Stall schlafen und essen mußte, sondern zum Essen ins Haus durfte. Er war wohl ein wenig verliebt in sie. "Und so gut wie sie war, so schön war sie auch!" "Die Blume vom Nimstal" nennt er sie.
Da ist der Kamerad aus dem Nachbardorf, den er auf dem langen langen Marsch schwer verletzt vom Balkan bis nach Prag gestützt und getragen hat.
Der erste Weltkrieg war verloren, die Losung hieß: "Jeder sehe, wie er heimkömmt. Wer nicht mitkömmt, bleibt liegen. Keiner wird getragen." Ein wochenlanger gnadenloser Fußmarsch, die, die nicht mitkamen, lagen am Wegesrand, mit aufgeblähten Bäuchen, oder schon zusammengefallen, oder schon vertrocknet. Einem Toten hat er die Schuhe genommen und an seine eigenen blutigen Füße angezogen.
Nachts lag er mit seinem Kameraden Löffelchen, gegen die Kälte, und weil sie zusammenhielten, wie er gerne erzählte.
Da ist sein Vater, der am Anfang des letzten Jahrhunderts unter Tage im Ruhrpott arbeitete, der nur einmal im Jahr zu seiner Familie nach Hause kommen konnte, sein Geld ablieferte und ihm ein neues Geschwisterchen machte, zwölf an der Zahl. Für den er einige Jahre in einer Schmugglerbande Tabak und Alkohol schmuggelte, aus Frankreich, aus Luxemburg.
Da ist seine geliebte Frau, seine Anna, jung, rund und drall, mit roten Wangen, die ihm sieben Kinder schenkte, wovon drei Söhne und zwei Töchter überlebten. Die zwei Jahre in Kirchenstreik getreten war, weil der Pfarrer in der Beichte der Meinung war, sie solle noch ein paar Kinder mehr bekommen. Für die er bis ins hohe Alter noch arbeitete, wovon ungezählte Sandsteinmauern in der Umgebung Zeugnis legen. Jeder Maurer hat beim Behauen der Steine seine eigene Handschrift, und seine ist sofort zu erkennen. Seine Anna, die ihn zwanzig Jahre zuvor mit 77 Jahren alleine ließ, als sie starb.
Da ist der deutsche Offizier, der ihn in den letzten Minuten des zweiten Weltkriegs noch wegen Wehrkraftzersetzung standrechtlich erschießen lassen wollte. Die Soldaten wollten sich in seinem Haus verteidigen, das auf einem Hügel liegt. Am Horizont waren schon die Amerikaner im Anmarsch zu erkennen, und die versprengten Reste, die 20 deutschen Soldaten hätten keine Chance, wollte er ihnen erklären und ihnen einen Fluchtweg in den Wald zeigen.
Die Gewehre waren schon auf ihn gerichtet, als ein Flakgeschütz in sein Haus einschlug.
Da ist die alte Nachbarin, hinter deren Röcken er sich versteckt hat, als die Alliierten am Ende des zweiten Weltkrieg die Gefangenen fürs Lager zusammentrieben. Einige Wochen arbeitete er für sie, als alter Mann verkleidet, bis er es nicht mehr aushielt, und vier Nächte lang durch die Gräben auf allen Vieren in sein Heimatdorf zurückrobbte. Er wollte wissen, ob seine Frau und Kinder noch lebten, das letzte was er gesehen hatte, war sein brennendes Haus, als er gefangen genommen wurde.
Als er heimkommt, findet er alle wohlbehalten, das Haus zerstört, und die Soldaten und den Offizier tot, die sich dort verteidigen wollten, auf der Flucht Richtung Wald erschossen.
Das große dunkle kalte Zimmer ist randvoll mit Menschen, Kameraden, Auftraggebern, Familie, Menschen aus fast einem Jahrhundert Leben.
Es ist 1994, und Johann, der 1896 geboren wurde, ist so alt, daß seine schlohweißen Haare im Nacken schon wieder schwarz nachwachsen, so schwarz, wie sie früher einmal waren.
Schon lange ist er sehr schwerhörig, so daß er, wenn er Besuch bekommt, aus Unsicherheit die Unterhaltung gerne selber bestreitet. Stundenlang erzählt er von früher, aus seinem langen Leben.
Ich bin wohl der einzige, der sich die Mühe machte, auch ihm etwas zu erzählen, man muß sehr laut sprechen und vieles wiederholen, aber er ist dankbar dafür. Jedenfalls bin ich der einige seiner Enkel, dessen Namen er sich merkt. Er ist auch der einzige, der mich damals, als Kriegsdienstverweigerung noch eine Schande war, dabei unterstützt.
Als nach 20 Jahren einsamen Lebens seine Tochter in sein Haus einzieht, siedelt sie ihn in den ersten Stock um. Seine Räume, seit fast 50 Jahren unverändert, werden wieder genau so eingerichtet, nur spiegelverkehrt.
Das ist auch die Zeit, in der er nie wieder einsam sein wird, Tag für Tag und Nacht für Nacht besuchen ihn die Menschen seines Lebens, von denen er so oft erzählt hat, sitzen auf Fensterbänken, Stühlen, Ablagen, Bettkanten, stehen in der Tür, reden untereinander oder auf ihn ein, Tote, Lebende, Zwischenwesen.
Mit großen runden Augen versucht er auf sie einzugehen, und vergißt zu unterscheiden, welcher Besuch Phantom ist und welcher nicht.
Eine Woche, nachdem die Außerirdischen nachts die schwere Kommode auf sein Bett geworfen haben, stirbt er, zwanzig Monate vor seinem 100. Geburtstag.
Angespannt ist er, etwas überfordert, von so viel Besuch, so viele Menschen, die er lange nicht gesehen hat. Nach so vielen Jahren, die er ganz alleine zugebracht hat.
Da ist sie, die Bäuerin, an die ihn seine Mutter als 12Jährigen auf dem Nikolausmarkt als Knecht verdingt hat, für ein ganzes Jahr, gegen einige Münzen und ein Paar Schuhe für den Jungen. Die erste, bei der er nicht wie das ganze Gesinde im Stall schlafen und essen mußte, sondern zum Essen ins Haus durfte. Er war wohl ein wenig verliebt in sie. "Und so gut wie sie war, so schön war sie auch!" "Die Blume vom Nimstal" nennt er sie.
Da ist der Kamerad aus dem Nachbardorf, den er auf dem langen langen Marsch schwer verletzt vom Balkan bis nach Prag gestützt und getragen hat.
Der erste Weltkrieg war verloren, die Losung hieß: "Jeder sehe, wie er heimkömmt. Wer nicht mitkömmt, bleibt liegen. Keiner wird getragen." Ein wochenlanger gnadenloser Fußmarsch, die, die nicht mitkamen, lagen am Wegesrand, mit aufgeblähten Bäuchen, oder schon zusammengefallen, oder schon vertrocknet. Einem Toten hat er die Schuhe genommen und an seine eigenen blutigen Füße angezogen.
Nachts lag er mit seinem Kameraden Löffelchen, gegen die Kälte, und weil sie zusammenhielten, wie er gerne erzählte.
Da ist sein Vater, der am Anfang des letzten Jahrhunderts unter Tage im Ruhrpott arbeitete, der nur einmal im Jahr zu seiner Familie nach Hause kommen konnte, sein Geld ablieferte und ihm ein neues Geschwisterchen machte, zwölf an der Zahl. Für den er einige Jahre in einer Schmugglerbande Tabak und Alkohol schmuggelte, aus Frankreich, aus Luxemburg.
Da ist seine geliebte Frau, seine Anna, jung, rund und drall, mit roten Wangen, die ihm sieben Kinder schenkte, wovon drei Söhne und zwei Töchter überlebten. Die zwei Jahre in Kirchenstreik getreten war, weil der Pfarrer in der Beichte der Meinung war, sie solle noch ein paar Kinder mehr bekommen. Für die er bis ins hohe Alter noch arbeitete, wovon ungezählte Sandsteinmauern in der Umgebung Zeugnis legen. Jeder Maurer hat beim Behauen der Steine seine eigene Handschrift, und seine ist sofort zu erkennen. Seine Anna, die ihn zwanzig Jahre zuvor mit 77 Jahren alleine ließ, als sie starb.
Da ist der deutsche Offizier, der ihn in den letzten Minuten des zweiten Weltkriegs noch wegen Wehrkraftzersetzung standrechtlich erschießen lassen wollte. Die Soldaten wollten sich in seinem Haus verteidigen, das auf einem Hügel liegt. Am Horizont waren schon die Amerikaner im Anmarsch zu erkennen, und die versprengten Reste, die 20 deutschen Soldaten hätten keine Chance, wollte er ihnen erklären und ihnen einen Fluchtweg in den Wald zeigen.
Die Gewehre waren schon auf ihn gerichtet, als ein Flakgeschütz in sein Haus einschlug.
Da ist die alte Nachbarin, hinter deren Röcken er sich versteckt hat, als die Alliierten am Ende des zweiten Weltkrieg die Gefangenen fürs Lager zusammentrieben. Einige Wochen arbeitete er für sie, als alter Mann verkleidet, bis er es nicht mehr aushielt, und vier Nächte lang durch die Gräben auf allen Vieren in sein Heimatdorf zurückrobbte. Er wollte wissen, ob seine Frau und Kinder noch lebten, das letzte was er gesehen hatte, war sein brennendes Haus, als er gefangen genommen wurde.
Als er heimkommt, findet er alle wohlbehalten, das Haus zerstört, und die Soldaten und den Offizier tot, die sich dort verteidigen wollten, auf der Flucht Richtung Wald erschossen.
Das große dunkle kalte Zimmer ist randvoll mit Menschen, Kameraden, Auftraggebern, Familie, Menschen aus fast einem Jahrhundert Leben.
Es ist 1994, und Johann, der 1896 geboren wurde, ist so alt, daß seine schlohweißen Haare im Nacken schon wieder schwarz nachwachsen, so schwarz, wie sie früher einmal waren.
Schon lange ist er sehr schwerhörig, so daß er, wenn er Besuch bekommt, aus Unsicherheit die Unterhaltung gerne selber bestreitet. Stundenlang erzählt er von früher, aus seinem langen Leben.
Ich bin wohl der einzige, der sich die Mühe machte, auch ihm etwas zu erzählen, man muß sehr laut sprechen und vieles wiederholen, aber er ist dankbar dafür. Jedenfalls bin ich der einige seiner Enkel, dessen Namen er sich merkt. Er ist auch der einzige, der mich damals, als Kriegsdienstverweigerung noch eine Schande war, dabei unterstützt.
Als nach 20 Jahren einsamen Lebens seine Tochter in sein Haus einzieht, siedelt sie ihn in den ersten Stock um. Seine Räume, seit fast 50 Jahren unverändert, werden wieder genau so eingerichtet, nur spiegelverkehrt.
Das ist auch die Zeit, in der er nie wieder einsam sein wird, Tag für Tag und Nacht für Nacht besuchen ihn die Menschen seines Lebens, von denen er so oft erzählt hat, sitzen auf Fensterbänken, Stühlen, Ablagen, Bettkanten, stehen in der Tür, reden untereinander oder auf ihn ein, Tote, Lebende, Zwischenwesen.
Mit großen runden Augen versucht er auf sie einzugehen, und vergißt zu unterscheiden, welcher Besuch Phantom ist und welcher nicht.
Eine Woche, nachdem die Außerirdischen nachts die schwere Kommode auf sein Bett geworfen haben, stirbt er, zwanzig Monate vor seinem 100. Geburtstag.
luckystrike - 2008/06/14 14:15