angels in america - revisited

Once upon a time - so fangen Märchen an, romantisch. Oft grausam, erbauend im Sinne von belehrend.
Es war einmal, vor über 25 Jahren, da kam eine große Seuche über die Welt. Ihre ersten Opfer wurden Helden, romantische Helden. Helden, die ihre kürzlich neu erkämpfte Freiheit teuer zahlen mußten, Blutpfand der Lust.
Geradezu alttestamentarisch wurden die Libertine mit Geschwüren, Krämpfen gestraft. Und dem Keim, der ihr wollüstiges Blut vergiftete.

Man stelle sich vor: der Tod, der im Kuss lauert, im Geschmack des Spermas des Geliebten oder Begehrten, das Perfide des Todes, der von einen Herzen voller Begierde durch den Körper gepumpt wird! Mythenstoff.

Die Welt, wie man sie kannte, war an ein Ende gekommen, eine imaginäre alttestamentarische Gottheit strafte alle Befreiungs- und Liberalisierungbewegungen mit dem einzigen Mittel, was ihr blieb: Angst und Tod. Ganz direkt. Intravenös. Das Millennium, Sinnbild des Weltendes und des Wiederkommes des Erlösers, der Apokalyse, war nah.

Die Helden wurden Helden, weil sie sich gegen ihr Schicksal, gegen den Tod stemmten. Etwas aus der Zeit machten, die ihnen noch blieb. Per Kunst, per Lied. Per Aktion, per Leben. Einfach der Pest ins faule Auge starren, so lange es geht. Es gab eine Zeit, da war es glorios, machte es unsterblich, an dieser modernen Pest zu sterben. ich weiß es, ich war dabei. Als Muse, als Lover, als Engel in Berlin.

gefallener_engel_1991

Heute ist AIDS ein Krankheit, die man sich leisten kann - fast. Wenn man in Europa lebt. Wenn man mit den gräßlichen Nebenwirkungen der Therapie leben will. Wenn man nicht in der sogenannten Dritten Welt lebt. Dort sterben die Menschen weiter wie die Fliegen, unbeachtet.

Heute ist man langzeitüberlebend, heute ist man frühverrentet, heute leidet man an den Therapiefolgen und stirbt an ihnen. Es ist im Griff, denkt die westliche Menschheit, und vergißt. Normalität. Wenn man es sich leisten kann. so überleben zu wollen und zu können. Die Krankheit ist grauenvoll und perfide, und dennoch infizieren sich immer mehr Menschen. Nicht nur in der dritten Welt, wo die Menschen nicht anders können, aus Armut und aus fehlgeleiteter Religion.

Nein, aus freiem Willen, aus freier Entscheidung. Der Lust wegen. Take back the night?

Ich verstehe die Unzumutbarkeit. Es macht mich immer noch wütend, die Kontrolle niemals ganz aufgeben zu dürfen, niemals den heißen Saft des Objekts der Begierde schmecken oder in mir haben zu dürfen. Ich finde es nicht normal und selbstverständlich, immer den Tod mitdenken zu müssen, wenn man Leben, Liebe macht. Es ist unzumutbar, das normal finden zu sollen.

Aber wie klein. wie traurig, wie armselig, dafür und daran zu sterben. Heute werden aus der Seuche keine Helden mehr geboren. Keine gewaltigen Engel erscheinen in den Fieberkrämpfen. Ein kleiner mieser kalter grauer Tod. Oder ein langes mieses häßliches schmerzhaftes Sterben. Selbst schuld. Kurz abgehandelt. Das Flügelrauschen ist verklungen.

Nein, die Welt ist nicht untergegangen, sie dreht sich weiter, uninteressiert.
Angels in America bleibt ein für seine Zeit wahrhaftiger, heute aber überholter Versuch, die Zeichen der Zeit zu deuten und zu überhöhen. Eine fast schon dokumentarische Miniseries des amerikanischen Fernsehens, outdated.
Ein Denkmal einer gewesenen Zeit.
pheerce - 2007/06/12 18:06

seit ich vor ein paar wochen las, dass die ansteckungszahlen die höchste steugerung in deutschland seit beginn der beobachtung haben, trage ich das thema mit mir herum. danke, dass du mir mit diesem text zuvor kamst. schöner kann man das thema nicht bloggen.

luckystrike - 2007/06/13 00:22

vielen dank! ich hatte nicht damit gerechnet, zu diesem beitrag kommentare zu bekommen. es hat sich selbst geschrieben, nach dem film.
blogger.de:kittykoma - 2007/06/12 20:27

den ganzen tag stricke ich schon an einem kommentar. und den ganzen "das ist der preis der freiheit"-schwampf schmeiß ich jetzt mal wieder weg.
das ist ein wunderbarer text. ich habe mich wieder an schöneberg in den 90ern erinnert. an die männer, die dort durch die straßen schlichen, ausgemergelt, am stock. große, einstmals schöne, gut gekleidete männer. ich habe mich immer gefragt, ob hier irgendwo ein behindertenheim für gut betuchte ist. bis ich es dann kapiert hatte.
die gespenster sind ausgestorben. heute spekuliert frau angesichts der roten gesichtsfarbe und des gedunsenen bauches des einen oder anderen geschäftsfreundes herum.
und glaubt, es sei nicht ihr problem. ist aber immer mal dabei, anhand der quote infizierter heteros in ihrer zielgruppe auszurechnen, wie hoch die wahrscheinlichkeit ist, daß es beim russisch roulette mal ernsthaft knallt.

luckystrike - 2007/06/13 00:24

da bin ich dir sehr dankbar, daß du den kommentar mit dem preis der freiheit weggeschmissen hat, freiheit hat keien preis, sie ist ein grundrecht.
und ja, ist es nicht erstaunlich, wie schnell die welt sich dreht, die wahrnehmung und die kultur darum?
blogger.de:kittykoma - 2007/06/13 12:20

freiheit hat keinen preis, sie ist ein grundrecht. wie wahr.
verrückterweise ist selbst eine libertine und selbstbewußte frau wie ich getränkt mit der angst, daß sexuelle freiheit gefährlich ist. gewalt bedeuten und körperliche schäden nach sich ziehen kann (illegale abtreibung, konsequenzen von verhütung) oder aber ein leben grundlegend verändert (schwangerschaft & mutterschaft). das ist mir von frühester kindheit vermittelt worden. so was schüttelt man nicht ab, das klebt der sündenbegriff in der katholischen erziehung.
luckystrike - 2007/06/13 21:54

Oh ja, was Religion mit einem Weltempfinden so anstellen kann, weiß ich auch - war ja schließlich sogar Meßdiener. Und da kann man so früh aus der Kirche austreten wie man will, es ist irgendwie in den Zellen verankert und erfordert manchmal tägliche Bekämpfung. Schuld und Angst sind die häßlichen Henkersgehilfen.
larousse - 2007/06/12 22:59

Sehr schön geschrieben.

Wie schwer ist es auch, einem Kind das zu erklären. Die Brut reagierte entsetzt "Aber das ist doch Liebe machen, da kann doch nichts Schlimmes bei passieren!!"
Sind die Anfänge tatsächlich schon so lange her? Ich kann mich schmerzhaft gut daran erinnern...

luckystrike - 2007/06/13 00:27

ohje, das ist wirklich keine schöne aufgabe, sowas kindern erklären zu müssen...
aber sie haben wenigstens den (traurigen) vorteil, daß sie eine welt ohne die pest nicht kennen. sagte ich vorteil? oh je.
larousse - 2007/06/13 12:44

Ja, die kennen Sie nicht,

und das ist gerade das traurige, genau. Sie werden sich nicht ungebremst ausleben können so wie ich, die kleinste Nachlässigkeit kann verhängnisvolle Folgen haben.
Ich kann eine SEHR strenge Mutter sein - ich glaube, ich werde mich daneben stellen, wenn's soweit ist... (o;
luckystrike - 2007/06/13 21:55

DAS ist dann mit Sicherheit eine 100% wirksame Präventionsmaßnahme!
500beine - 2007/06/13 11:51

das leben ist gefährlich, bumsen auch.-

luckystrike - 2007/06/13 12:03

das mögen wir ja auch daran
saintphalle - 2007/06/13 13:55

Ein wunderschön geschriebener Text, der mich sehr berührt. Und der nachdenklich macht, besonders jetzt, wo AIDS wieder so ein großes Thema ist. Auch ich bin leichtsinnig. Manchmal. Auch ich habe Angst. Oft. Und doch ist es auch tatsächlich so, wie Kittykoma es beschreibt. Als Frau kannst du niemals hemmungslosen Spaß haben. Du musst immer wissen, dass du möglicherweise einen hohen Preis zahlen musst, wenn du mal ein paar Minuten den Verstand verlierst. AIDS kommt dann noch zusätzlich dazu. Das hat mich oft blockiert, oft ausgebremst und ängstlich sein lassen. Ich wollte mir keine Krankheiten einhandeln und keine ungewollten Kinder. Und ich wollte trotzdem Spaß haben und meine Sehnsüchte ausleben. Schwierig. Sehr schwierig.

luckystrike - 2007/06/13 21:57

Die Kinderfrage ist da ja natürlich der Hauptunterschied zur männlichen Lage, ganz klar, zumal weibliche Sexualität, wenn man pauschalisieren möchte, natürlich eh anders funktioniert als männliche, klar.
raketenprinz - 2007/06/14 09:11

verfilmt? der prinz kannte bis dato nur das theaterstück. und das auch nur als lektüre. die serie wird soch der prinz wohl mal besorgen müssen...

luckystrike - 2007/06/14 09:47

sogar ganz sehenswert verfilmt von mike nichols, mit meryl streep, al pacino, marylouise parker u.a., die alle einen guten job machen.
F.-Lola (Gast) - 2007/06/14 16:27

Strafende Gottheit?

Im Zusammenhang mit Aids von Strafe zu sprechen!
Dagen haben wir doch mal Demonstrationen organisiert - und der Engel war dabei.
Strafende Gotttheit - ein schön gewaltiges Bild. Aber eine Virus ist banal, es kennt keine Moral.

Hochachtungsvoll
F.-Lola

luckystrike - 2007/06/15 11:14

Natürlich hat ein Virus keine Moral, und strafende Gottheiten gibts natürlcih auch nicht, auch wenn es sich einem als gewesenem Katholiken manchmal so aufdrängen will.
Es ging darum, den politischen und kulturellen Backlash auf die junge Befreiung darzustellen, die reaktionäre Siehste-Haltung, die Stimmung die sich damals - nicht nur von außerhalb - aufdrängte, so wie sie eben auch teilweise in Angels in America dargestellt wird.

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